Historie 2009/2010: entfesselte Rebellen nach Neustart

07.04.2009

Wir schreiben das Jahr 2009, und befinden uns am Startpunkt einer überaus spannenden Entwicklung im Stuttgarter Eishockey.
Die von vielen, ja eigentlich den meisten Stuttgarter Fans, ungeliebte Kooperation mit dem Rivalen aus Bietigheim (Bietigheim Amateure, 4. Liga) mit dem Ziel Oberliga-Aufstieg (3.Liga) wurde für beendet erklärt.
Die Gründe dafür waren wie immer bei solchen Anlässen vielschichtig.
Sportlich lief die letzte Saison 2008/2009 doch sehr enttäuschend, die Oberliga-Aufstiegsrunde wurde zwar erreicht, aber schnell zum Desaster.
In 18 Spielen dort konnten nur 5 Siege eingefahren werden, so dass relativ schnell klar wurde das hier kein Blumentopf zu gewinnen war, und der gemeinsame Traum von einem Oberliga-Aufstieg schnell zum Albtraum wurde.
Koop-Trainerlegende Danny Held aus Bietigheim gelang es nicht an die starke Vorsaison anzuknüpfen als man noch die Aufstiegs PlayOffs erreichte, dort aber dem starken Team aus Herne den Vortritt lassen musste.

Viele Verletzungen kamen auch noch hinzu, so dass man dem Druck des unbedingten Aufstiegs letztlich nicht gewachsen war, der vor der Saison als großes Ziel ausgerufen wurde.
Ein weiterer Grund war das Stuttgarter Landesliga-Team, dass unter Pavol Jancovic zum zweiten Mal hintereinander (!) souverän die Landesliga-Meisterschaft gewann und vehement den verdienten Aufstieg einforderte, und damit den Druck auf den Stuttgarter Vorstand erhöhte, endlich ein eigenes Team in der Baden-Württemberg-Liga (heute Regionalliga Südwest) an den Start zu schicken.
Es kam also einiges zusammen…
Unter vorgehaltener Hand wurden auch atmosphärische Störungen zwischen den Koop-Partnern kolportiert, da man in Stuttgart den Saisonverlauf sehr früh erahnte, aber nicht gegensteuern konnte, da schlichtweg die Finanzmittel fehlten, um personell nachzulegen.
Da auch aus dem Ellental keine Signale gesendet wurden, fügten sich dann alle dem Schicksal.

Bemerkenswert war die Tatsache dass Bietigheim nicht immer bereit war Toptalente für wichtige Spiele im Kampf um die Oberliga abzustellen und einem Einsatz im eigenen Zweitliga Profiteam den Vorrang gab.
Das große gegenseitige Vertrauen der Kooperationspartner bekam hier bereits langsam kleine Risse.
Also wurden die Stuttgarter Uhren vor der Saison 2009/2010 wieder auf Null gestellt:
der Landesliga-Aufstieg wurde diesmal angenommen und man stand wieder mit eigener Lizenz auf eigenen Füßen.
Aber, die Euphorie rund um das glatte Parkett auf den Rängen, aufgrund der Beendigung der Kooperation wurde im damaligen Vorstand nicht unbedingt geteilt.
Die große, alles entscheidende Frage war:
Schafft das verstärkte Landesliga-Team den Sprung oder blamiert man sich bis auf die Knochen?

„Die Liga halten“ war zunächst die Parole, denn die Prognosen aus dem Vorstand und dem inner circle waren vorsichtig ausgedrückt sehr verhalten.
Einzig der damalige Stuttgarter Coach Pavol Jancovic, der zum BW-Liga Cheftrainer aufstieg, zeigte hier mehr Realismus, denn er kannte seine Mannschaft bestens und legte sich auf einen Platz im Mittelfeld fest.
Jancovic gelang es auch aus vielen Stuttgarter Spielern aus der Landesliga und der BW-Liga eine echte Kampfeinheit zu formen.
Hinzu kamen dann noch die bärenstarken Neuzugänge Alexander Schmidt (Burgkirchen), Dominik Schmitt (Ravensburg) und Neil Witthöft (Bad Nauheim), die in Stuttgart anheuerten und sich als echte Verstärkungen entpuppen sollten.

Nicht zu vergessen auch die vielen Rückkehrer wie z.B. Maxim Beck, Miguel Tilgner und letztlich auch Tim Becker, der aus Balingen wieder auf sein altes Heimateis ging.

Mit großer Spannung fieberte man also im wahrsten Sinne des Wortes dem Saisonstart entgegen.
Erster Gegner im Spiel 1 der neuen Zeitrechnung auf der Waldau war gleichzeitig ein dickes Brett: EHC Eisbären Heilbronn.
Ein unbequemer, starker und vor allem eingespielter Kader traf gegen eine neuformierte Mannschaft, die sich wie echte Männer ins Gefecht warfen und unbedingt zeigen wollten, was für ein Potential in der Mannschaft steckt.

In beeindruckender Art und Weise wurde der haushohe Favorit aus dem Unterland ins Penalty gezwungen.
Trotz der anschließenden Niederlage (4:5 n.P.) war dies ein großer Erfolg, der auch dem damaligen Eisbären-Trainer Kai Sellers Respekt einflößte. „Mit solcher Gegenwehr im ersten Spiel haben wir nicht unbedingt gerechnet…“.
Die Schnappatmung bei einigen Stuttgarter Verantwortlichen legte sich bereits während dem Spiel deutlich, denn die Waldau-Truppe spielte richtig gutes Eishockey.

Aber, es sollte noch viel besser kommen, denn das zweite Spiel führte die Fernsehturm-Truppe ausgerechnet ins Ellental gegen den ehemaligen Kooperationspartner.
Das alte Stadion war zu 75% mit Stuttgarter Fans gefüllt und die Partie sollte als die Unsterbliche in die Geschichte eingehen.
Top-Stimmung wie zu alten Zeiten, skandierende Fans und die Jancovic-Truppe spielte eine spektakuläre Partie.
Mit einem unfassbaren, sagenumwobenen 8:2-Auswärtssieg wurde der Gegner förmlich aus der eigenen Halle geschossen.

Es war die Geburtsstunde eines legendären Teamspirits, der das Team die komplette Saison durch die Liga trug.
Es folgten weitere Siege, darunter spektakuläre Kantersiege wie z.B. ein 18:2 Heimsieg gegen Zweibrücken oder der Penalty-Thriller in Ravensburg, der erst nach 24 (!) Penalties entschieden wurde.

Am Ende stand die Meisterschaft, an die niemand, auch nicht die kühnsten Optimisten nur ansatzweise gedacht hatten.
Kurzum, die Sensation war perfekt: die Baden-Württemberg-Liga wurde regelrecht aufgemischt – und das als Aufsteiger:
sowas hatte die Liga bis dato noch nicht gesehen!
Lediglich als bereits vor Saisonende die Meisterschaft im Heimspiel gegen die Freiburger Wölfe 1b eingetütet wurde, gab es Niederlagen, aber da war bereits die Luft raus, denn das Team ging vorher immer ans Limit und wenn nötig sogar darüber hinaus.

Die Stuttgarter Fans standen in der Saison 2009/2010 mit Stolz erfüllt auf den Zuschauer-Tribünen der Liga und konnten es nicht fassen:
Stuttgart war wieder eine Adresse im BW-Eishockey.
Die Meisterfeier war ebenso legendär, sogar die Kult-Comedy-Band „Kleine Tierschau“ trat auf und viele Fans rätseln heute noch wie sie damals nach Hause gekommen sind 😉
Aber das Eishockey-Wunder sollte eine Saison später in seine zweite Staffel gehen, denn bereits Ende Januar, als klar war wohin die sportliche Reise geht, erkannte das agile, sportlich kompetente Rebels-Oberkommando die Zeichen der Zeit und setzte alle Hebel in Bewegung, um in der kommenden Saison selbst den Angriff auf die Oberliga zu wagen.
Was für eine Wendung !

Aber das ist eine andere Geschichte….

Text: Ralf Seidel

weitere Dokumente aus dieser Zeit (Stadionzeitschrift, Zeitung, Sportmagazine):